Religionskritik » Urbi et Orbi oder ein paar Gedanken zu Glauben und Religion
erstellt am: 01.03.2013 von: Kurt Schmid
Würdenträgern genauso wie Politiker werden nicht müde, zu erzählen, dass sich Moral und Ethik an den Religionen orientieren. Es helfe den Menschen Halt zu geben und zeige den richtigen Weg durch das Leben. Unzählige Laien unterstützen diese Ansicht. Zu Recht? Kardinal Kurt Koch erklärte in einem kürzlichen Interview, es gäbe keine Gesellschaft, die ohne Leitkultur leben könne. Es sei einerseits positiv, dass ursprüngliche christliche Werte einen allgemeingültigen Charakter erlangt hätten. Die Menschenrechte seien heute universal gültig, und das sei sehr gut so. Andererseits müsse man feststellen, dass manche Werte – und das gelte namentlich auch für bestimmte Menschenrechte – relativiert würden, sobald sie nicht mehr im religiösen Fundament wurzelten.
Betrachten wir dieses Fundament. Für Strenggläubige gelten beide Testamente als Gottes endgültige Offenbarung und beanspruchen über Jesu Tod hinaus ihre unbedingte Geltung. Beide Teile sind als gleichberechtigt zu betrachten und in ihrer Deutung wechselseitig aufeinander angewiesen. Auch der Islam erkennt die Bibel und mit ihr seine beiden Vorgängerreligionen als gültiges, jedoch von Menschen teilweise verfälschtes Offenbarungszeugnis an. So übernimmt auch der Koran in der Sure 17: die Nachtreise, Verse 2-111 die Texte des Alten Testaments, sie haben jedoch einzelne Passagen umgeschrieben und auf Allah angepasst. So kennt der Koran als Beispiel keinen Schöpfungsfluch, keine Erbsünde und keine Dreifaltigkeit.
Sind die Bibel, der Talmud oder Koran wirklich die Hüter der Moral und Ethik?
In den zehn Geboten lesen wir im 6. du sollst nicht töten. Aber ebenso lesen wir im
Samuel Kapitel 15 Vers 3 „Nun geh und schlage Amalek. Und alles, was ihm gehört, sollt ihr der Vernichtung weihen, und nichts sollst du verschonen, sondern du sollst Mann, Frau, Kind und Säugling, Rind, Schaf, Kamel und Esel töten“.
Bibelverse, die zur Tötung oder sonstiger Gewalt aufrufen sind um ein vielfaches häufiger, als die versöhnlichen Texte.
Wie kann ein Kardinal Koch und mit ihm ein Grossteil der Bevölkerung von einer ethisch moralischen Leitkultur sprechen? Wie von religiösen Werten und einem Buch der Güte und Liebe? Wie ist es möglich, diese und viele andere Bibelstellen, die gar nicht moralische sind, auszublenden oder ins Gute zu kehren? Es gibt wohl kein Verbrechen, dessen sich die Religionen im Laufe ihrer Geschichte nicht schuldig gemacht haben. Dabei handelt es sich nicht etwa um gelegentliche Entgleisungen irgendwelcher verirrten Glieder der Obrigkeit, nein, die Gewalt als Triebkraft aller Verbrechen liegt schon in den Ideologien und Strukturen der Institutionen aller Weltreligionen. Nachzulesen in den jeweiligen Büchern, dem Alten Testament und neuen Testament, genauso in den Sanskrit-Schriften und dem Koran. Verleumdung, Mord, Vertreibung, Unterdrückung, Tötung Andersgläubigen sind immer wiederkehrende Themen.
Alles war erlaubt, um sich gegenüber Konkurrenzreligionen, Kritikern und Abweichlern durchzusetzen. Durch das Bündnis mit dem römischen Staat und Kaiser, der die neue Priesterkaste mit Ämtern und Herrschaftsrechten ausstattete, konnte sich eine Staatskirche mit einem totalitären Macht- und Gewaltanspruch etablieren. So verlangte sie bedingungslosen Glauben und Gehorsam, die Befolgung absurder Dogmen, Riten und Zeremonien. Die Intoleranz, Bestrafung, Verdammung und Gewalt wurden zu „geheiligten“ Mitteln des Glaubens erhoben. Wie erwähnt, konnten sich die Religionen auf die jeweils „Heiligen Schriften“ berufen, in denen ein „Gott der Gewalt“ zu Krieg und Gräueltaten aufruft. So bedienten sich die Religionen im Laufe der Jahrhunderte bedenken- und gewissenlos in den heiligen Schriften und jedes Mittel war ihnen recht, um ihre Machtstellung zu verteidigen, zu festigen und auszubauen. Dabei fungierte eine willfährige Obrigkeit, geködert mit dem Satz „von Gott berufen und eingesetzt“ stets als ausführendes Organ all der Verbrechen, die in der Geschichte eine grausige Blutspur mit Millionen von Opfern hinterlassen hat. Eroberungen, Zwangschristianisierung, Versklavung ganzer Völker, Kreuzzüge, Pogrome gegen Andersgläubige, Verfolgung und Ausrottung alternativer Bewegungen, Inquisition gegen „Ketzer“, Hexenverbrennungen, koloniale Zwangsmissionierung gehen auf das Schuldkonto von Kirchen und Obrigkeit.
Bemühen wir ein Beispiel aus dem Katholizismus. Am 1. September 1910 hat Papst Pius X. mit dem Motu proprio Titel eines Apostolischen Schreibens “Sacrorum antistites” den Antimodernisteneid für alle Priester, Bischöfe und Theologieprofessoren vorgeschrieben. Bis 1967 mussten diesen alle Angehörigen der genannten Gruppen schwören. Ein Eid gegen Menschenrechte und Aufklärung. Nach dem zweiten vatikanischen Konzil 1962 bis 65 kam es zu einem Schisma, einer Kirchenspaltung, weil Lefebvre und seine Anhänger den beschlossen Nostra Aetate ablehnten, sie akzeptierten keine Anerkennung anderer Religionen, im Besonderen nicht des Judentums. Ebenso wenig die Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte und Aufklärung. In einer Predigt zu Allerheiligen 1990 im schweizerischen Ecône sagte Lefebvre: Zitat „Die Laizität ist der öffentliche Atheismus und das ist eine schwere Sünde. Der Atheismus beruht auf der Erklärung der Menschenrechte. Die Staaten, die sich seither zu diesem offiziellen Atheismus bekennen, befinden sich in einem Zustand dauernder Todsünde.“ Zitat ende. Was für eine Religion, die Menschenrechte mit Todsünde gleichsetzt.
Ist das ganze Konstrukt an Menschenverachtung und Absurdem, seit dem Mittelalter nur noch Geschichte? Nein leider nicht! Lasst es mich wieder mit einem Beispiel aus der jüngeren Geschichte aufzeigen. Die weibliche Verstümmelung, wie sie leider heute noch in Afrika praktiziert wird, hat keinen religiösen Hintergrund, im Gegensatz zu Europa und Nordamerika. Hier wurden während des 19. Jahrhunderts und bis zu den 1940er und 1960er Jahren die Verstümmelungen besonders aus religiösen Gründen vollzogen. Bekannt als Klitoridektomi und andere operative Eingriffe wie Kauterisationen (herausbrennen) und Infibulationen, die an weiblichen Genitalien durchgeführt wurden, um vermeintliche weibliche „Leiden“ wie Hysterie, Nymphomanie und ganz besonders die schädliche Masturbation und andere Formen der so genannten weiblichen Devianz abweichendes Verhalten zu heilen.
1923 schrieb die Doktorandin Maria Pütz in ihrer Dissertation: „In drei mir speziell von Herrn Professor Dr. Cramer gütigsten überlassenen Fällen trat nach Entfernung der Klitoris und einer teilweisen oder vollständigen Exzision der kleinen Labien vollständige Heilung ein. Masturbation wurde nicht mehr geübt, und selbst nach einer Beobachtungszeit von mehreren Monaten blieb der Zustand unverändert gut.“
Die Behauptung, dass christliche Moral und Ethik Grundlage unserer Kultur seien und uns zu dem gemacht haben, was wir sind, ist falsch. Fact ist, Ethik und Moral wurden gegen den Willen der Kirchen erkämpft. So missachten sie die Rechte ihrer eigenen Mitglieder. Sie bauen die Religionen auf Verbote, unterdrücken Frauen, dulden kein kritisches Denken in den eigenen Reihen. Eine lange Liste von Irrlehren, von Frauen und Männer, die verbannt oder verbrannt wurden zeugen davon. War es in unserem Kulturkreis nicht die Französische Revolution, die zwar äusserst blutig aber wirkungsvoll gegen die Vormacht von Kirche und Krone für bürgerliche Rechte auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kämpfte? Sind Menschenrechte nicht notwendigerweise mit Demokratie verbunden und deshalb einer absoluten Wahlmonarchie wie der Kirche wesensfremd?
Die Religionen beanspruchen das Privileg, Ethik und Moral zu besitzen, missachten dabei Werte wie: Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Respekt vor der Würde aller Menschen, Gleichheit vor dem Gesetzt und Gerechtigkeit für jedermann. Aufklärung wurde gegen die Religionen erkämpft. Ethik und Moral als “religiöse Werte“ gleichzusetzen mit Menschenrechten, ist Geschichtsklitterung.
Betrachten wir die Stellung der Frauen in den Weltreligionen, hier öffnet sich für mich ein Unverständnis, ein Mysterium. Die Frauen kommen nur in wenigen Ausprägungen vor; als Hure, sündige Verführerin, als Dienerin. Sie wurden als Hexen verbrannt, als freie sexuelle Wesen gesteinigt, blieben Menschen zweiter Klasse. Sie werden verhüllt, von der Bildung ausgeschlossen. Im Hinduismus finden sie sogar als Grabbeilage Verwendung. In keiner der Weltreligionen kommt die Frau als gleichwertiges Wesen vor. Den Religionen mit Achtung und Respekt zu begegnen, ist in Anbetracht der alltäglichen Absurditäten kaum eine ernst zu nehmende Forderung. Betrachten wir einige Beispiele: Strenggläubige Juden, Christen und Moslems lehnen alles Moderne als Gotteslästerung ab, sie verheissen ewige Verdammnis all denen, die sich dem widersetzen. Allem Modernen? Nutzen diese Strenggläubigen nicht ebenso bedenkenlos Handys, PCs, Flugzeuge und all die anderen modernen Dinge? Bestreiten aber jegliche Wahrheit der Wissenschaftslehre? Wahrheit und Wissen darf nur von Gott kommen. Strenggläubige Juden unterwerfen sich der Halacha (einer Art Gesetzesbuch). Allein die Kaschrut, das Speisegesetz einzuhalten ist an Irrsinn kaum zu übertreffen. Von getrenntem Aufbewahren und Kochen der Milch- und der Fleischspeisen, bis hin zur koscheren Küche inklusive Einrichtung. Bei den jüdischen identitätsstiftenden Vorschriften kommt uns vor allem das Sabbatgebot in den Sinn, welches an diesem Tag alle Tätigkeiten verbietet, die in der Halacha als einem Teil des Talmud als Arbeit definiert wird. Die jüdischen Weisen haben die Zahl der am Sabbat verbotenen Hauptarbeiten entsprechend der Häufigkeit des Wortes Melacha festgelegt. Die hebräische Sprache hat zwei Wörter für Arbeit, Awoda und eben Melacha – in der Tora festgelegt sind, deren 39 Begriffe. Daraus leitet sich der Umgang mit den modernen Tätigkeiten ab. So darf am Sabbat kein Licht, Streichholz oder Feuer angezündet werden. Schreiben oder nur schon Schreibzeug mit sich führen ist verboten, ausgenommen verblassende Tinte, weil diese nicht dauerhaft ist. Telefonieren, einen Regenschirm aufspannen, Fernsehen schauen oder WC Papier abreissen, als nur einige Beispiele, sind nicht erlaubt. Aufzugfahren ja, aber der Knopf darf nicht betätigt werden. Mit dem modernen Leben lassen sich solche Verbote nur schwer in Einklang bringen. Somit müssen für ausweglose Situationen Lösungen gefunden werden. In Jerusalem gibt es ein Institut für Wissenschaft und Halacha, das sich auf Lösungen und Probleme im Spannungsfeld zwischen Talmud und modernem Leben spezialisiert hat.
Wer einen Stromschalter für Licht, Klimaanlage oder was auch immer am Sabbat betätigt und damit einen elektrischen Kreislauf schliesst, verstösst gegen das Verbot. Mit einer Ausnahme: Lebensgefahr. Nun will man natürlich auch mal einen Schalter betätigen, ohne dass jemand in Lebensgefahr ist. Die Lösung: es wurden Schalter entwickelt, deren Stromkreise schon geschlossen sind, deren Stromfluss aber durch eine Störung verhindert wird. Wer also diese Spezialschalter umlegt, beendet damit die Störung eines vorher bereits geschlossenen Kreislaufs, dies gilt nicht als Arbeit. Das Gerät oder Licht funktioniert wieder. Nun gäbe es eine einfache Möglichkeit, dass man am Sabbat einen Nichtjuden diese Arbeit verrichten liesse, das geht nicht, weil Anweisungen geben nicht gestattet ist. Auch da ist die Lösung nicht weit, so sagt man nicht, mach das Licht an, sondern; es ist dunkel, es ist zu hell, es ist zu kalt. Darauf wird ohne Anweisung gehandelt. Solche Beispiele würden Abende füllen.
Bei den Christen, sieht man gläubige Philippinos sich an das Kreuz schlagen lassen, Pilger auf den Knien rutschen, bis diese blutig gescheuert sind, Opus Dei Anhänger sich als regelmässige Flagellanten den Rücken blutig schlagend und was sonst noch an Irrsinn praktiziert wird. Menschen unserer Zeit und Kultur glauben, Gott habe die Erde und das Universum wirklich an sechs Tagen mit 24 Stunden geschaffen, sie glauben an eine Jungfrau Maria, wie an Engel, Paradies und Hölle. Sie glauben an einen Gott, der als Schöpfer Trilliarden von Sterne und Planeten schuf und dennoch Zeit findet, jeden einzelnen jederzeit zu beobachtet und jedes Gebet zu erhören, dabei gleichzeitig Millionen Kinder aber verhungern zu lassen. Dabei ehrfurchtsvoll an einen gnädigen gütigen Gott glauben?
Über Absurditäten und Menschenverachtung könnten wir stundenlang diskutieren, dennoch glauben nach Umfragen in Deutschland und in der Schweiz die Mehrheit an diesen gnädigen, gütigen Gott. Ungeachtet ihrem sozialen Status, Bildung und Alter. Sie glauben an Wunder, an Engel, an die Sterndeutung, an Pendeln, Lichtnahrung und was es sonst noch alles gibt. Wie ist das möglich? Dass so viele Menschen an Wunder glauben, an die Vorhersage der Sterne, eine Bibel verteidigen, als das Buch der Weisheit und der Güte. Nicht nur im Zeitfenster von damals, sondern geglaubt und verteidigt hier und heute. Dass so viele Gläubige immer noch an die Unfehlbarkeit und absolute Wahrheit der Bibel, Thora und Koran glauben.
Lasst mich einen Versuch machen, zu erklären um zu verstehen was nur sehr schwer zu verstehen ist. Wie rational denkende Menschen derart unvernünftig ins irrationale abgleiten können. Die Wahrheit ist, dass die individuelle Wahrheitsvorstellung nichts mit Wahrheit, nichts mit Vernunft zu tun hat. Glauben bedeutet lediglich «etwas für wahr halten» und beruht auf einer Wahrscheinlichkeitsvermutung. Wer Überirdisches zulässt, der öffnet der Unvernunft alle Grenzen. Wie aber kann eine derart starke Wahrheitsüberzeugung entstehen, die jeglichen Verstand versagen lässt? Da das keine Einzelfälle sind und auch Glaubensauseinandersetzungen darauf begründen, muss die Ursache eine menschliche Veranlagung sein. Wir wissen aus der Neurologie, dass der rechtsseitige Schläfenlappen, der als einer der Zentren für Spiritualität bei den Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist, als eine der Erklärungen herhalten muss. Offensichtlich war Spiritualität ein Evolutionsvorteil und wurde im Verlaufe der Geschichte gnadenlos missbraucht. Spiritualität als solche ist nicht abzulehnen, nur deren Missbrauch. Dabei gilt die Erziehung als der zentraler Punkt. Erziehung zum Gehorsam ist nicht per se schlecht. Nur wenn Eltern den Glaube als Wahrheit lehren, dabei absoluten Gehorsam verlangen, dann läuft etwas schief. Dabei gedankenlosen Gehorsam belohnen und das Hinterfragen bestrafen, dann sind die Weichen für einen unmündigen Menschen meistens gestellt, der für allen Unsinn eines offenes Ohr hat, nur nicht für Vernunft und empirisches Wissen. Das Kleinkind ist auf wahre Informationen der Eltern und Erzieher angewiesen, es muss sich darauf verlassen können.
Kein Mensch ist gleich nach der Geburt alleine überlebensfähig, es braucht eine führende Hand, um sich später alleine zurecht finden und orientieren zu können. Dabei ist nicht die Erziehung zum Glauben wichtig, sondern die Erziehung zum kritischen Denken. Als unsere Vorfahren begannen, ihr Sein zu begreifen, brauchten sie das Verstehen. Sie mussten all das, was um sie herum geschah, begreifen und verstehen können. Blitze, Erdbeben Naturkatastrophen aller Art wie auch das Sterben und den Tod. Hier half vermutlich die Spiritualität den Schmerz zu verarbeiten. Da die Naturwissenschaftlichen Erkenntnisse noch fehlten, brauchte es das Metaphysische, die Geburtsstunde der Götter war da, sie mussten für Sinn und Begreifen herhalten. Denn um das Leben meistern zu können, braucht der Mensch eine reale Vorstellung. Der Mensch muss seine Umgebung verstehen können, so interpretierten sie und empfanden das Interpretierte als DIE Wahrheit. Auch unser Selbstbewusstsein setzt eine solche reale Wahrheitsvorstellung voraus. Diese reale Wahrheitsvorstellung ist aber nur eingebildet und selbst konstruiert, denn alle Wahrnehmungen, Gefühle und Erlebnisse sind subjektiv und münden in einer individuellen Wahrheitsvorstellung. Kant bezeichnete die Vernunft, welche rein gedanklich ist und nicht auf praktischer (empirischer) Erfahrung beruht, als «reine Vernunft», und sein berühmtes Werk «Kritik der reinen Vernunft» ist eine ausführliche Analyse davon. Dabei kam er zum Schluss, dass reine Vernunft selbstkonstruiert und eingebildet ist und dass jeder Versuch, Wahrheitserkenntnisse durch reine Vernunft zu gewinnen, wie z. B. über Gott, ewiges Leben oder ewige Verdammnis, notwendiger weise im transzendentalen Schein endet. Heute weiss man, dass jede Erkenntnis an die Sinneserfahrung gebunden ist, es gibt im Gehirn keine genetischen Quellen, die Wahrheitserkenntnisse liefern können. Dadurch ist jede Wahrheitsvorstellung der reinen Vernunft ein eingebildetes Paradoxon. Dank diesem eingebildeten Paradoxon gelingt es uns, unsere Umwelt zur Realität zu machen, aber dadurch wird auch Glauben zur Realität, und je mehr man sich damit gedanklich beschäftigt, wird Einbildung zur Wahrheit. So gewinnt auch absurderweise die reine Vernunft des Glaubens an Bedeutung, nur was ist denn an Glauben vernünftig? Was sind die Kriterien dafür? Es gibt keinen empirischen Erfahrungsnachweis bezüglich Allah, Gott, Jahve oder von Himmel und Hölle. Somit kann reiner Glaube nicht vernünftig sein. Deshalb ist es aussichtslos, mit Gläubigen über Wahrheit zu diskutieren. Dem gegenüber steht die Praktische Vernunft.
Praktische Vernunft bezieht sich auf eine Handlung, welche sich auf Grund empirischer Erfahrung als praktisch erweist, wie zum Beispiel: Es ist vernünftig, die Hand nicht auf eine heisse Herdplatte zu legen, da sie verbrennen würde. Das zeigt deutlich, dass sich Vernunft nicht auf eine Wahrheit, sondern immer auf eine Handlung bezieht, die zu einer Wirkung führt, welche man vorhersagen und dementsprechend nach Vernunftkriterien beurteilen kann. Das Beispiel lässt auch erkennen, dass jeder Mensch im Alltag nach der praktischen Vernunft handeln muss, sonst wird sein Leben zum Scherbenhaufen. Um die Welt zu verbessern, müsste man einfach vom Wahrheitsdenken auf praktisches Vernunftdenken umstellen. Das ist aber wegen der Gewohnheit kaum möglich und müsste bei der Erziehung beginnen, indem man den Kindern an Stelle von Gehorsam und Religionswahrheiten, praktische Vernunft beibringt. Als Erziehungsmethode wäre das auch vorteilhafter, denn praktische Vernunft führt durch Einsicht zum guten Charakter, weil gutes Tun zufriedener macht als schlechtes. Wenn das auch nur ein Hoffnungsschimmer sein mag, so hilft diese Lösungsidee wenigstens, den Glauben an die Menschheit nicht ganz zu verlieren.
Erlaubt mir zum Schluss noch ein persönliches Fazit: Wir sind geneigt Wahrheit so zu sehen wie sie uns ins Konzept passt, nur – das hat mit Wahrheit nichts zu tun. Solange der Mensch sich nicht vom Wunschdenken gleich Wahrheit löst, und lernt strukturiert, kritisch zu denken bleiben wir primitive gefährliche Wesen. Wenn wir den Glauben nicht durch Wissen und Verstehen ersetzen, bleiben wir brandgefährliche, leicht manipulierbare Wesen. Solange wir an Globuli, Schutzengel, die Macht der Sterne und an den lieben Gott glauben, sind wir empfänglich für Scharlatanerie und politische Manipulation und wir werden weiter missbraucht, nicht nur um Unsinniges zu konsumieren, sondern auch um sinnlose Kriege zu führen, uns zu Pogromen hinreissen lassen im Namen einer höheren Sache. Die Geschichte ist voller Beispiele. Wir müssen kritisches Denken und das Wissen vor den Glauben stellen. Nun – werdet ihr zu Recht bemerken, wir können doch nicht alles Wissen. Richtig, aber wir sind doch kreative Wesen. Werfen wir doch alles, was wir nicht Wissen in einen grossen Topf und stehen dazu und akzeptieren, dass unser Nichtwissen viel grösser als das Wissen ist, dafür muss sich niemand schämen. Das ist um ein Vielfaches besser, als uns von obskuren Glaubensätze und Scharlatanen verführen zu lassen.
(von Kurt Schmid, ehem. Präsident FreidenkerInnen Winterthur, März 2013)