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Themenabende » Hedonismus als Lebensentwurf

erstellt am: 02.09.2015 von: Marc Wäckerlin

An unserem Themenabend vom 02.09.2015 präsentierte ich die hedonistische Philosophie als alternativen Lebensentwurf. Ich leitete das Thema mit einer Gruppe von Fragen ein:

  • Was ist Euer Lebenssinn?
  • Worauf begründet?
  • Was ist Glück?
  • Woran habt Ihr Freude?

Es stellte sich heraus, dass das Streben nach Glück, Freude, Vergnügen, ein erfülltes Leben als Lebenssinn bei den Freidenkern weit verbreitet ist. Einigkeit herrscht auch darin, dass nicht der kurzfristige Lustgewinn im Vordergrund steht, sondern das nachhaltige genussvolle Leben. Dies entspricht im Wesentlichen bereits dem hedonistischen Ideal, wie es seit der Antike begründet wird.

Das führt uns zu den Ursprüngen der hedonistischen Philosophie im antiken Griechenland. Seit ca. 2500 Jahren wird die hedonistische Philosophie weiter entwickelt und aktuell zum Beispiel vom deutschen Philosophen Bernulf Kanitscheider vertreten.

Aristippos von Kyrene, Schüler des Sokrates, 435 v.u.Z. bis ca. 355 v.u.Z. begründete die kyrenaischen Schule. Er gilt als Begründer des Hedonismus. Auf ihn folgte Theodoros «Atheos» 335 v.u.Z. bis ca. 270 v.u.Z., der gottlose von Kyrene. Im 4. bis 3. Jahrhundert v.u.Z. trat Hegesias oder Hegesias Peisithanatos (Hegesias der Selbstmordprediger) auf. Nebst Aristippos war Epikuros aus Samos von 341 v.u.Z. bis 271 oder 270 v.u.Z. in Athen ein bedeutender Vertreter des Hedonismus, und der Begründer des Epikureismus – er führte den nach ihm benannten epikureischen Garten, in den er alle Interssierten, selbst Sklaven, zur Diskussion einlud.

Später wurde der Hedonismus erst nach der Renaissance mit der Auklärung wieder aufgegriffen. Bei David Hume (7. Mai 1711 bis 25. August 1776 aus Edingburgh) finden sich vereinzelte hedonistische Aussagen. Vor allem aber griff Julien Offray de La Mettrie (23. November 1709 in Saint-Malo bis 11. November 1751 in Potsdam) in seinem Werk «L’art de jouir» den Hedonismus wieder auf. Sein Schüler, Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade (2. Juni 1740 in Paris bis 2. Dezember 1814 in Charenton-Saint-Maurice bei Paris) trieb den Lustgewinn auf die Spitze. Jeremy Bentham (15. Februar 1748 in Spitalfields, London bis 6. Juni 1832) schuf eine Moralkonzeption des hedonistischen Utilitarismus. John Stuart Mill (20. Mai 1806 in Pentonville; bis 8. Mai 1873 in Avignon) begründete ein umfassendes Konzept der persönlichen Freiheit. Bertrand Arthur William Russell, 3. Earl Russell (18. Mai 1872 bei Trellech, Monmouthshire, Wales bis 2. Februar 1970 in Penrhyndeudraeth Gwynedd, Wales) führt die Ethik auf die Leidenschaft zurück und zeigt sich im ersten Weltkrieg als Pazifist abgeneigt gegenüber selbstzerstörendem Heldentum. Michel Onfray (geboren am 1. Januar 1959 in Argentan, Normandie) stellt in seinen Vorlesungen die ansonsten oft marginalisierten hedonistischen Philosophen in den Vordergrund. Weitere aktuelle hedonistische Philosophen sind Torbjörn Tännsjö, Fred Feldman und Bernulf Kanitscheider (geboren am 5. September 1939 in Hamburg), der mit seinem Buch «Das hedonistische Manifest» die hedonistische Philosophie im deutschsprachigen Raum vertritt.

Gegner des Hedonismus waren nebst der Lebensfeindlichen christlich-semitischen Religion bereits in der Antike die Stoa (Kyniker), allen voran Cicero: Für den Stoiker als Individuum gilt es, seinen Platz in dieser Ordnung zu erkennen und auszufüllen, indem er durch die Einübung emotionaler Selbstbeherrschung sein Los zu akzeptieren lernt und mit Hilfe von Gelassenheit und Seelenruhe zur Weisheit strebt. Weiter Platon der Metaphysiker und Kant der pflichtbewusste Metaphysiker.

Hedonismus ist eng geknüpft an materialistisches und atheistisches Weltbild. Die Philosophie wird von den Herrschenden ungern gesehen, denn Hedonisten sind schwer zu beherrschen. Hedonismus richtet sich an einem praktischen Utilitarismus aus: Ob etwas ethisch gut oder schlecht ist, entscheidet sich nicht an einem übergeordneten moralischen Prinzip, sondern an der Frage, ob es einem Zweck nüzt oder schadet. Im Utilitarismus gibt der Hedonismus das Ziel vor, nämlich die Erzeugung von Freude und die Vermeidung von Schmerz. Dies macht den Hedonisten zum Gegener aller Moralisten, Dentologen, Pflichtethikern und Religionen. Handlungen sind relativ an ihrem Ergebnis zu messen, nicht absolut gut oder schlecht.

Bernulf Kanitscheider schreibt dazu in «Das hedonistische Manifest»:

Nicht ausser Acht lassen darf man den Einfluss der aufstrebenden Naturwissenschaft auf die Liberalisierung des Lebensstils und den Abbau lusthemmender Konventionen, obwohl diese Konsequenzen von den Gründungsvätern der neuen Physik, wie Galilei, Descartes und Newton, keineswegs intendiert waren. Eine mechanistisch und atomistisch begriffene Natur, in die auch der Mensch eingeschlossen ist, hat egalitäre Folgen und damit auch subversive Implikationen für die herkömmliche sittliche Ordnung.

Von der Antike bis zur Moderne macht die hedonistische Philosophie eine Entwicklung durch. In der Antike steht die Schmerzvermeidung im Vordergrund, so ist die Ataraxie, die Unerschütterlichkeit und Seelenruhe, damit die Vermeidung von Schmerz und Unruhe bei Epikuros das höchste Ziel. Die Erfüllung «unvernünftiger» Begierden, so Epikur, führt zwar zu einem kurzfristigen Listzuwachs im Sinne von dynamischer Lust, zieht aber auf lange Sicht Schmerzen nach sich. In diese Kategorie gehören jegliche Schlemmereien und orgiastisches Verhalten. Zu einer Aufrechterhaltung der katastematischen Lust führt bei ihm eine fast asketische, tugendhafte Lebensweise. Es ist für Epikur nicht möglich, lustvoll zu leben, ohne dass man klug, schön und gerecht lebt. Eine mögliche Erkärung für Epikurs Fixierung auf Schmerzvermeidung könnten nach Kantischeider mögliche starke Schmerzen im Alter gewesen sein. Jedenfalls steht Epikur damit nicht nur im vollkommenen Gegensatz zum ungezügelten Leben und Fantasie eines Marquis de Sade, sondern er steht auch in Opposition zu seinem Vorgänger Aristippos, gemäss dem jede Lust unabhängig von ihrer Natur die gleiche Qualität hat. Insofern die Lust dem natürlichen Zustand des Menschen entspricht, ist der Weg zum Glück nach Aristippos, die Lust zu maximieren, dem Schmerz aber auszuweichen. Er behauptet gar, die körperliche Lust sei der eigentliche Sinn des Lebens.

Aristippos war offenbar ein echter Lebenskünstler, der uns noch heute als Vorbild dienen kann. Ihm scheint die Kombination von Freude mit langfristigem Genuss sehr gut gelungen zu sein. Er war Freudenmädchen nicht abgeneigt, hielt eine langfristige offene Beziehung zur Hetäre Lais von Korinth, von der er sich nicht beherrschen liess. Anderen gegenüber gewährte er dieselbe Freiheit, die er für sich in Anspruch nahm. So schreibt die Wikipedia: «Was den Charakter Aristippos’ betrifft, berichten die Quellen von seiner heiteren Natur, seiner Beherrschtheit und seiner Fähigkeit, in allen Lebenslagen, in Freude und in Not, eine distanzierte Gelassenheit zu bewahren. Luxus und Unterhaltung gegenüber soll er nicht abgeneigt gewesen sein, ohne sich davon oder von anderen abhängig zu machen.»

Für Hume soll die Vernunft Mittel und Wege finden, die Ziele der Leidenschaften optimal zu erreichen, sie soll sich aber nicht an der Wahl der Ziele selbst beteiligen. «Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften, sie soll es sein und bleiben, sie kann nie eine andere Rolle beanspruchen, als den Leidenschaften zu dienen und ihnen zu gehorchen.»

Bernulf Kanitscheider schreibt dazu:

Welche Rolle schreibt Hume aber nun der Vernunft zu? Hier nimmt er eine Position vorweg, die in der modernen analytischen Ethik wieder aufgegriffen wird. Die Vernunft soll Mittel und Wege finden, die Ziele der Leidenschaften optimal zu erreichen, sie soll sich aber nicht an der Wahl der Ziele selbst beteiligen. Hume hat dies in die berühmt gewordenen Worte gekleidet: «Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften, sie soll es sein und bleiben, sie kann nie eine andere Rolle beanspruchen, als den Leidenschaften zu dienen und ihnen zu gehorchen.» Diese ethische Haltung kann in weitem Maße als epikureisch angesehen werden. Es geht gar nicht um ein vernunftgemäßes Regulativ unserer Wünsche; den attraktiven lustvollen Betätigungen muss nicht mit einem repulsiven Prinzip entgegengesteuert werden, sondern die Vernunft hat dafür zu sorgen, dass wir keine Fehler machen, die uns ungewollt in unglückliche Situationen manövrieren, welche mit Unlust verbunden sind. Im Gegenteil, die Vernunft kann zur Verfeinerung und Stimulierung, also zur Maximierung des Glücksempfindens eingesetzt werden. Intellektualität muss also nicht eo ipso leidenschaftsfeindlich eingesetzt werden, sondern kann sehr gut auch dazu dienen, das Raffinement des Genusses zu verbessern, was zumindest im Bereich des Essens und Trinkens jedermann geläufig ist

Im 17. Jahrhundert jedoch waren die führenden Denker fast durchweg der Meinung, dass die Lust spendenden Leidenschaften wenn nicht unterdrückt, so doch unter rationale Kontrolle gebracht werden müssen. René Descartes meinte aber immerhin, dass die gezähmten Gefühle als Motor der Aktivitäten des Lebens nützlich sein können. Jean-Jacques Rousseau drehte die traditionelle Motivationsrichtung sogar um und behauptete: «Wir suchen Einsicht, weil wir genießen wollen». Er kann sich nicht vorstellen, wie jemand, der nicht von starken Begierden getrieben wird, zur Mühe des Denkens gebracht werden soll.

Hier wird die persönliche Komponente auch beim Philosophieren sichtbar. Bei vielen asketisch orientierten Philosophen und bei Wissenschaftlern ganz allgemein waren sicher Selbsttäuschung, Selbstbetrug und willkürliches Verschließen vor ungewünschten Zügen des eigenen Wesens eine Strategie, mit der sie das tradierte Bild eines abgeklärten Weisen aufrechterhielten. Vielleicht sind auch viele Philosophen aufgrund eines berufstypischen Selektionseffektes emotional so untersteuert, dass ihnen bei dem Thema «Leidenschaften» immer nur die Assoziation «Beherrschung» einfällt.

La Mettrie war konsequenter Materialist, er sah den Menschen als Maschine und wurde in der Folge von allen Seiten angefeindet, unter anderem auch von Voltaire, Diderot, Holbach, Rousseau und anderen. Man machte sich über ihn lächerlich und setzte sich nicht mit seinen Ansichten auseinander. Man schwieg in erst tot und schloss ihn dann als einen in seinen Sitten und Anschauungen verdorbenen Menschen aus der Gemeinschaft der «philosophes» aus. La Mettrie nannte sein Hauptwerk den Anti-Seneca.

Kanitscheider schreibt über ihn:

Julien Offray de La Mettrie war zweifellos der kompromissloseste und freimütigste Verteidiger der Lebenslust unter den Philosophen. Um ihn richtig einzuordnen, muss man eine Grundstruktur dieser Wissenschaft berücksichtigen: In der Philosophiegeschichte gibt es dominierende Hauptströmungen, untergeordnete Seitenzweige und unterdrückte Denkrichtungen, die immer ein Schattendasein führten, weil sie die Landesreligion stören und überdies gesellschaftspolitisch subversiv wirken. Zur letzten Gruppe gehörte La Mettrie, der von den tonangebenden Philosophen unbarmherzig bekämpft wurde, weil er in seiner Metaphysik einen ontologischen Materialismus vertrat, der sich vor allem in einer Maschinentheorie des Geistes ausdrückte, die speziell der Annahme einer kontrakausalen Willensfreiheit zuwiderlief. Überdies war er ein Enfant terrible, weil er in der Ethik den Hedonismus vollinhaltlich verteidigte. Beide Standpunkte liefen zentralen Grundsätzen der abendländischen Philosophie zuwider. Den Menschen als Maschine aufzufassen, widersprach der Autonomie des Geistes, und La Mettries Ethik setzte sich dem Dogma entgegen, dass die Vernunft die Aufgabe hätte, die Leidenschaften zu dämpfen. Er wurde deshalb von den konservativen Philosophen des dominierenden Hauptstromes und den aufklärerischen Zeitgenossen abgelehnt und systematisch diffamiert: Er sei kein ernst zu nehmender Philosoph, sondern ein „Fall“, am ehesten ein «Unfall» der Philosophiegeschichte. Die «frommeren» Aufklärer, Diderot und Voltaire, stellten sich gegen ihn – nicht aus metaphysischen, sondern aus ethischen Gründen.

Bentham macht den Hedonismus wieder salonfähig. Er vertritt einen quantitativen Hedonismus, auf den er den Utilitarismus aufbaut. Er entwickelt das hedonistische Kalkül: Zur Handlungsentscheidung sollten weitere Umstände Beachtung finden: wie gesichert es ist, dass die Freude erreicht werden kann (certainty), die zeitliche Entfernung zur erwarteten Freude (propinquity/remoteness), die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Freude folgt und die Wahrscheinlichkeit (fecundity), dass Schmerzen oder Leid nach der Freude zu erwarten sind (purity). «Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid und Freude – gestellt. Es ist an ihnen aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun werden. Sowohl der Massstab für Richtig und Falsch als auch die Kette der Ursachen und Wirkungen sind an ihrem Thron festgemacht.»

In der anschliessenden Diskussion zeigte sich, dass die Freidenker der Philosophie des Hedonismus gegenüber offen sind, wenn sie auch die Reduktion des Lebenssinns auf das maximale Glück des Individuums dann ablehnen, wenn dies anderen Individuen schadet. Die einen sahen als Ziel nicht die Maximierung des eigenen persönlichen Glücks, sondern in dem aller Menschen. Doch das muss kein Widerspruch sein: Menschliches Mitgefühl sorgt dafür, dass das Wohl anderer im eigenen Wohl berücksichtigt wird. Einig waren sich die Freidenker darin, dass jeder Mensch ein Anrecht auf den eigenen Weg zum Glück hat.

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